Der Weg durch die Schildgasse und die Hütergasse führt auf das Dämmchen. Es ist heute, wie zur Zeit des Nationalsozialismus, ein beliebter Treffpunkt von Jugendlichen, um ihre Freizeit gemeinsam zu verbringen. Dass junge Menschen bereits durch eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung ins Visier der Nationalsozialisten gerieten, zeigt dieser Ort beispielhaft.
Schon früh begann das nationalsozialistische Regime außerdem damit, Kinder und Jugendliche flächendeckend zu indoktrinieren, d.h. in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die 1926 in Weimar gegründete Hitlerjugend (HJ) und der 1930 ergänzte Bund Deutscher Mädel (BDM) wurden nun unter dem Slogan „Jugend dient dem Führer“ weiter ausgebaut. Mitglieder mussten sich dort den Regeln des Regimes unterwerfen, konnten aber zum Teil auch Freiheiten erleben, die ihnen beispielsweise im Elternhaus nicht gewährt wurden. Das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nationalsozialistischen Organisationen die Jugendlichen kontrollieren und disziplinieren sollten. Die Hitlerjugend sollte eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung völkischer Ideologie in allen Lebensbereichen spielen. In Erfurt inszenierten ihre Mitglieder im Juni 1933 im Rahmen einer Sonnwendfeier eine Bücherverbrennung. Die paramilitärische Ausbildung diente zudem schon bald der Vorbereitung auf den kommenden Krieg. Wer den Regeln der Organisation nicht unterwerfen wollte oder aus rassistischen Gründen von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen war, sah sich rasch massiven Repressionen ausgesetzt.
Dennoch verweigerten sich einige Jugendliche den NS-Organisationen. Ende der 1930er Jahre bildeten sich in vielen Städten Gruppen, deren Mitglieder ihre Freizeit selbst gestalten wollten. Sie gehörten nicht zwangsläufig zum politischen Widerstand, widersetzten sich aber der nationalsozialistischen Gleichförmigkeit im Alltag und der strikten Trennung der Geschlechter in den NS-Organisationen. Aus einigen Gruppen entwickelten sich auch Formen des politischen Widerstands.
In Erfurt existierten mehrere solcher Gruppen mit markanten Namen: Es gab den „Kleinmoskautrupp“, die „Wilden Udestedter“ oder den nach dem Bergsteiger und Schauspieler Luis Trenker benannten „Trenkerbund“. Dass auch Mädchen und junge Frauen Teil oppositioneller Gruppen waren, belegt die Mädchengruppe mit dem Namen „Die blonden Sieben“. Sie trafen sich hinter der Krämerbrücke, in Cafés oder Eisdielen. Erste Berichte über oppositionelle Jugendbewegungen in Erfurt tauchten in den Überwachungsakten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) im September 1938 auf. In einem Bericht heißt es:
„Es ist verschiedentlich in letzter Zeit zur Bildung von Gruppen oppositioneller Jugend in solchem Ausmaß und in solcher Weise gekommen, daß ein Durchgreifen mit polizeilichen Maßnahmen nicht mehr möglich war.“
Mehr als einmal kam es auch zu handfesten Auseinandersetzungen mit Angehörigen der Hitlerjugend. So gab beispielsweise ein Hitlerjunge nach einer Prügelei zu Protokoll, einer der oppositionellen Jugendlichen hätte auf seine Drohung mit dem Streifendienst der HJ erwidert: „Der Streifendienst kann mich am Arsch lecken.“
Hier am Dämmchen trafen sich die „Wilden Udestedter“, unter denen auch ehemalige Hitlerjungen waren. Ihre Kennzeichen waren spezielle Kleidungselemente, mit denen sie sich von der Uniformiertheit der nationalsozialistischen Jugend abheben wollten.
Die Aktivitäten vieler oppositioneller Jugendlicher fanden mit Kriegsbeginn und dem deutschen Überfall auf Polen, an dem auch junge Soldaten aus Erfurt beteiligt waren, ein jähes Ende. Sowohl die Angehörigen der oppositionellen Jugendgruppen als auch die Hitlerjungen wurden zur Wehrmacht eingezogen. Jugendprotest wurde zunehmend härter bestraft, bis hin zu einer Internierung im berüchtigten Jugend-Konzentrationslager in Moringen bei Göttingen. Dennoch traten selbst in den Kriegsjahren noch widerständige Jugendliche in der Stadt in Erscheinung, die heimlich Parolen an Wände schrieben oder während der Verdunkelung Hitlerjungen durch die Straßen jagten. Die von den Nationalsozialisten angestrebte totale Erfassung der Jugendlichen gelang ihnen somit zu keinem Zeitpunkt.