DGB-Bildungswerk
Thüringen e.V.

StationEhemaliges Gesundheitsamt

Station

Ehemaliges Gesundheitsamt

Wir stehen nun vor dem ehemaligen Stadtgesundheitsamt in der Turniergasse 17. Dieser Ort steht beispielhaft für die brutalen Folgen der Beteiligung städtischer Behörden an der Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie in die Praxis.

Das Gesundheitsamt verfügte, dass mehr als sechshundert Personen aus sozialrassistischen Gründen zwangssterilisiert wurden. Das 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bot dafür die rechtliche Grundlage. Die Diagnosen „Erbkrankheit“, Epilepsie oder andere konnten ausschlaggebend sein für eine Zwangssterilisation.

Mit der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten kam es zu einer radikalen Umgestaltung des deutschen Gesundheitswesens gemäß der nationalsozialistischen Ideologie. In dieser trat das individuelle Patientenwohl hinter das Ziel der sogenannten „Volksgesundheit“ zurück. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass nicht das Wohl des Einzelnen, sondern das „Wohl des Volksganzen“, d.h. der rassistisch definierten „Volksgemeinschaft“ in Zukunft Grundlage allen ärztlichen und fürsorgerischen Handelns sein müsse. Ein wichtiger Faktor bei der Realisierung dieser völkischen Vorstellung von Gesundheit war die Eugenik . Nicht nur für die erwähnten Zwangssterilisationen, sondern auch für die systematische Tötung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen bot sie eine ideologische Rechtfertigung, die leider bis heute oft nur unter der verharmlosenden Bezeichnung „Euthanasie “ bekannt ist.

Welche weitreichenden Folgen diese Ideologie für die Betroffenen hatte, zeigt beispielhaft der Fall von Frau A. aus Erfurt, der vom Amtsarzt des hiesigen Gesundheitsamtes zur Anzeige gebracht wurde. Die Diagnose lautete: „angeborener Schwachsinn“. Zu dieser Feststellung war man hinsichtlich mangelhafter schulischer Leistungen und einem vorzeitigen Schulabbruch von Frau A. gekommen – keineswegs ein Einzelfall. Im Fall von Frau A. wurden die epileptischen Anfälle ihres früh verstorbenen Sohnes zu einem weiteren Indiz für eine vermeintliche „Erbkrankheit“. Im abschließenden Urteil über die Begründung der Zwangssterilisation von Frau A. hieß es: „Danach wird festgestellt, daß A. erbkrank ist, und daß…ihre Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden.“

Stadtarchiv Erfurt

Zusätzlich wurde der Verurteilten zur Last gelegt, dass sie seit acht Jahren von ihrem Ehemann getrennt und seitdem bei ihrem Vater lebte. Auch gingen auszugsweise Schilderungen über die Tochter J. aus den Jugendamtsakten in das Verfahren ein. Darin wird J. mit verschiedensten negativen Stigmata belegt. 1934 wurde sie schließlich ihrer Mutter weggenommen. Von Frau A. sind leider sind keine Stellungnahmen aus den Unterlagen zu entnehmen.

Implizit gibt das Urteil gegen Frau A. Auskunft darüber, welchen Blick die Nationalsozialisten auf Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen hatten: Aus ihrer Sicht stellten diese Personen eine Last für die völkisch definierte Gemeinschaft dar, der es sich in letzter Konsequenz durch gezielte Tötungen zu entledigen galt.

Alle Angestellten des Gesundheitsamtes und Sozialfürsorgerinnen waren deshalb dazu verpflichtet, „Erbkrankheitsverdächtige“ an die Amtsärzte der Gesundheitsämter per Formulardruck zu melden. Oft reichte schon der Bezug von Sozialleistungen aus, um von den zuständigen Fürsorgeämtern beim Gesundheitsamt angezeigt zu werden. Soziale Beurteilungen wurden in den Sterilisationsbeschlüssen nur notdürftig hinter pseudomedizinischen Diagnosen versteckt. Schulversagen, Vorstrafen, Arbeitsplatzverlust usw., ja auch Armut wurden zur „Erbkrankheit“ erklärt. Auch eine unangepasste Lebensweise oder ein von der NS-Ideologie abweichendes Wertesystem konnte zur Beurteilung „moralischer Schwachsinn“ führen.

Bis zum Kriegsende wurden in Deutschland zwischen 200.000 und 475.000 Menschen zwangssterilisiert.

Rundgänge
Diese Station ist Bestandteil der folgenden Rundgänge: